Das Hochstapler-Syndrom hat interessante Vorteile

Basima A. Tewfik, Assistenzprofessorin am MIT Sloan, untersuchte in zwei Feldstudien und zwei Experimenten Beschäftigte, die unter dem „Hochstapler-Syndrom“ leiden. Das ist das Gefühl, unzulänglich und ein Betrüger zu sein, obwohl man in seinem Job erfolgreich ist. Es stellte sich heraus, dass sich diese Personen in ihren sozialen Interaktionen stärker an anderen orientieren. Gleichzeitig schätzte man sie als zwischenmenschlich effektiver ein.

Die Schlussfolgerung lautet daher: Das Hochstapler-Syndrom hat seine Vorteile!

Mit dem Hochstapler-Syndrom vertraute Menschen halten dieses eher für durchwegs schädlich. Natürlich kann einen der Glaube, nicht so kompetent zu sein, wie andere denken, ängstlich machen und das Selbstwertgefühl senken. Allerdings gibt es auch eine positive Seite: Professor Tewfiks Forschungen zeigen, dass dieses Phänomen auch dazu führt, dass man geschickter mit Beziehungen umgeht. Was wiederum eine wichtige Voraussetzung für beruflichen Erfolg ist.

Eine Studie zeigte, dass sich in Ausbildung befindliche Ärzte mit häufigen Hochstapler-Gedanken deutlich besser und sensibler mit Patienten interagieren. Diese wurden von den Patienten in Bezug auf ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten besser bewertet.

In einer anderen Studie stellten Bewerber/innen, die häufiger an “Hochstapelei” dachten, in informellen Gesprächen mehr Fragen. Sie wurden deshalb von Personalchefs als menschlich kompetenter eingeschätzt. 

Zusammengefasst machen einen die Gedanken als “Hochstapler” einfühlsamer, d. h. man empfindet die Wahrnehmungen und Gefühle anderer Menschen besser nach, was einen sympathischer macht. Zudem schienen in Professor Tewfiks Stichproben die Gedanken der “Hochstapler” deren Leistung nicht zu beeinträchtigen. Die besagten Ärzte stellten genauso häufig richtige Diagnosen wie andere. Die genannten Bewerber wurden nach den Vorgesprächen mit Personalchefs genauso häufig zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

Ist es also in Ordnung – vielleicht sogar gut – am Hochstapler-Syndrom zu leiden?

So weit würde ich zwar nicht gehen, aber Professor Tewfik zielte mit ihrer Untersuchung darauf ab, das Stigma zu beseitigen und eine ausgewogene Sichtweise zu vermitteln. Sie hoffte mit ihrer Arbeit Menschen dabei zu helfen, den mit dem Hochstapler-Syndrom einhergehenden anfänglichen Stress und Ängste zu mildern. Dabei zeigte sie sozusagen einen zwischenmenschlichen “Silberstreif “ auf. Es ist also in Ordnung, manchmal Hochstapler-Gedanken zu haben. Es ist keinesfalls ein „Syndrom“ oder gar eine Pathologie.

Schaden diese Gedanken deiner Leistung, auch wenn sie deine zwischenmenschliche Wahrnehmung verbessern – Vor allem in Berufen, in denen viel auf dem Spiel steht? Ich denke da an Sportler, Militäroffiziere, Prozessanwälte und Geschäftsführer.

Interessanterweise gibt es bis heute keine empirischen, quantitativen Beweise dafür, dass Hochstapler-Gedanken die Leistung beeinträchtigen. Dennoch hält sich dieser Gedanke hartnäckig. Gleichfalls verweisen Psychologen oft auf die sogenannte Yerkes-Dodson-Stress-Leistungskurve, die zeigt, dass ein paar Nerven – bis zu einem gewissen Grad – die Leistung verbessern. Wahrscheinlich bietet das richtige Maß an Selbstzweifeln gerade genug Motivation, um die beste Leistung zu erbringen. Es ist aber nach wie vor eine offene Frage.

Wie stellt man fest, ob jemand an einem Hochstapler-Syndrom leidet – und in welchem Ausmaß?

Was indes Forscher in den letzten Jahrzehnten als Hochstapler-Syndrom oder auch Hochstapler-Phänomen bezeichnet haben, ist von “Angst” nur sehr schwer zu unterscheiden. Und wie bei der Erforschung Angst, ist es kein Wunder, dass wir nur an die damit verbundenen schlechten Nachrichten glauben.

Deshalb hat Professor Tewfik in ihren Studien das Phänomen auf eine Art und Weise gemessen, die dessen Hauptmerkmal erfasst: Die Überzeugung, dass andere deine Kompetenz überschätzen.

Folglich entwickelte und validierte sie anhand von sieben Labor- und Feldstudien mit mehr als 1.000 Personen, einen neuen psychologischen Fragebogen mit fünf Punkten. Konkret bat sie die Menschen, die Häufigkeit von Gedanken während der Arbeit anzugeben, wie

  • „Die Menschen, die mir wichtig sind, halten mich fähiger, als ich glaube“ oder
  • „Andere denken, ich hätte mehr Wissen, als ich glaube“.

Doch wie sorgte Professor Tewfik bei dem Experiment mit den Bewerbern nun für deren Gefühl als Hochstapler und wie schnell wirkte sich dieses Gefühl auf deren Verhalten aus?

In den Labor- und Feldstudien bat sie die nach dem Zufallsprinzip dieser Gruppe zugewiesenen Teilnehmer, über eine Zeit nachzudenken, in der sie bei der Arbeit Hochstapler-Gedanken hatten. Während die Kontrollgruppe über eine Zeit nachdachte, in der andere sie so sahen, wie sie sich selbst sahen. Oder in einem zweiten Experiment, über das, was sie zu Mittag aßen.

Unmittelbar nach diesen Reflexionsphasen verhielten sich die Teilnehmer/innen der Hochstapler-Gruppe anders als die der Kontrollgruppe: Denn sie begannen, mehr Fragen zu stellen.

Sollten wir uns also alle darauf vorbereiten, Hochstapler-Gedanken zu haben? 

Statt Mantras wie „Ich bin gut genug, ich bin klug genug und verdammt noch mal, die Leute mögen mich“ sollte unser Selbstgespräch wohl eher lauten: „Ich glaube nicht, dass ich gut genug bin, ich glaube nicht, dass ich klug genug bin, aber ich mache mir keine Sorgen, denn diese Unsicherheit wird die Leute dazu bringen, mich zu mögen“?

Ich glaube definitiv nicht, dass wir absichtlich falsche Gedanken hervorrufen sollten. Vor allem, weil es wesentlich bessere Maßnahmen für dich gibt, stärkere berufliche Beziehungen aufzubauen! 

Man kann vielmehr aus Professor Tewfiks Untersuchung Folgendes lernen:

Wenn man diese Gedanken hat – und das kann von Zeit zu Zeit passieren – sollte man den damit einhergehenden Stress nicht noch dadurch verstärken, dass man sich einredet, dass sie zwangsläufig zu schlechterem Abschneiden bei der Arbeit führen.

Wie viele von uns haben folglich das Hochstapler-Syndrom?

Laut einer häufig zitierten Statistik haben sich fast 70 % der Menschen zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Karriere schon einmal als “Hochstapler” gesehen. In der Regel dann, wenn man vor einer neuen Herausforderung steht, eine neue Stelle antreten oder nach einer Beförderung mit neuen Aufgaben konfrontiert wird.

Haben demgegenüber Frauen und farbige Menschen häufiger Hochstapler-Gedanken?

Professor Tewfiks Studien – und von anderen Forschern bestätigt – zeigen keine signifikanten Unterschiede. Das heißt, Männer scheinen genauso häufig unter Hochstapler-Gedanken zu leiden wie Frauen. Weisen Menschen auf das Phänomen der Hochstapler in unterrepräsentierten Gruppen hin, verwechseln sie das mit etwas viel Heimtückischerem. Nämlich einem Mangel an Zugehörigkeit!

Ein “echter” Hochstapler-Gedanke wäre demzufolge: “Meine Kollegen halten mich für klüger, als ich bin”. Es geht nicht darum zu glauben, dass sich andere Leute fragen, ob man hierher gehört oder denken, man sei nicht klug genug.

Wenn also Manager/innen hören, dass ein/e Mitarbeiter/in aus einer Minderheitengruppe solche Gedanken äußert, sollten sie im Hinblick auf ein Eingliederungsproblem prüfen. Vielleicht befindet sich der einer Minderheit zugehörige Angestellte ja in einem feindseligen, voreingenommenen Arbeitsumfeld …?

Besteht dann nicht die Gefahr, dass das Wissen um die Vorzüge des Hochstapler-Syndroms dich davon abhält, dich wie ein Hochstapler zu fühlen?

Wenn du dich darauf konzentrierst, dass deine Hochstapler-Gedanken dich dazu bringen zwischenmenschlich zu kompensieren, was wiederum dazu führt, dass die Leute dich als sozial kompetenter wahrnehmen … werden deine Gedanken und die Vorteile, die sie mit sich bringen, dann nicht irgendwann weniger?  

Professor Tewfik vermutet, dass dieses Wissen deine Hochstapler-Gedanken nicht vollständig beseitigen würde. Selbst extrem erfolgreiche Menschen wie Albert Einstein, der ehemalige Starbucks-Chef Howard Schultz und die Schriftstellerin Maya Angelou haben öffentlich zugegeben, von Zeit zu Zeit Hochstapler-Gedanken zu hegen. Professor Tewfik vermutet hier immer starke Auslöser in der Umwelt, die diese hervorrufen.

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